So, nun wie angekündigt doch ein etwas längerer Beitrag zu diesem Thema: Westendorf weist in seinem Artikel vollkommen zu Recht darauf hin, dass die Ägypter sich darüber im Klaren sein mussten, dass etwas einfach am Horizont verschwand, denn "auch die Pyramiden tauchten für den Reisenden am Horizont auf und wieder unter, ohne dass jemand auf die Idee gekommen wäre, sie würden in der Unterwelt verschwinden". Er verweist ausserdem u.a. auf Texte im Grab des Pentu in Amarna: "Du querst den Himmel, jedes Gesicht ist auf dich gerichtet, ohne Aufhören in der Nacht wie am Tage" und "Sie (die jubelnden Menschen) hören auf, nachdem du untergegangen bist und dich mit [dem Himmel] vereint hast". Demzufolge verschwindet die Sonne nicht in Richtung Unterwelt, sondern geht am Horizont einfach unter, um woanders weiterzuscheinen. Westendorf sieht in Echnaton einen reformbesessenen König, dem es ohne weiteres zuzutrauen gewesen sei, ein neu entdecktes (latent vielleicht schon länger vorhandenes) physikalisches Weltbild als legitim anzuerkennen, woraufhin dann auch die Unterwelt samt Osiris null und nichtig wurde. Diese neue geistige Errungenschaft - wenn es sie denn so gegeben hätte - könnte die Amarnazeit überdauert haben, obwohl die ägyptische Obrigkeit das gewohnte Pantheon einschl. Osiris wieder an seinen angestammten Platz setzte. Westendorf führt aus, dass "die Ägypter im wesentlichen zwei Jenseitsräume kannten, in denen die Sonne die Nacht verbrachte: die Himmelsgöttin in Tier- oder Menschengestalt und die Unterwelt", die Duat und die (chtonische) Duat, die dann unterschieden wurden durch die Bezeichnungen dwA.t xr.t (untere Duat) und dwA.t Hr.t (obere Duat). Demzufolge vermutet er, in der Zeit nach Echnaton könnte die Unterwelt, wo die Sonne die Nacht verbringt, nicht im Erdinneren angesiedelt worden sein, sondern - aufgrund der nicht wegzuleugnenden wissenschaftlichen Erkenntnisse - möglicherweise buchstäblich unter der Erde, also auf der anderen Seite der Weltkugel. Er führt weiterhin Formulierungen an, die dies belegen könnten, wenn man sie entsprechend übersetzt. Leider ist es ja im Ägyptischen tatsächlich immer noch so, dass es bei Übersetzungen sehr häufig mehrere Möglichkeiten gibt, die einem Text auch eine andere Bedeutung geben können. Ich finde Westendorfs Überlegungen nicht uninteressant und auch nicht abwegig. Die Zeit Echnatons wäre also eine Art "Aufklärung" der Antike gewesen und er selbst im Prinzip kein Monotheist, sondern eigentlich mehr ein "angereicherter" Atheist, ein Anbeter der von ihm vergöttlichten Natur. Im Zusammenhang mit dieser Aufklärung mag auch stehen, dass nach Echnaton erstmals astronomische Decken in Königsgräbern auftauchen, die erste bekannte im Grab Sethos' I., und dass zur Grabdekoration seit Haremhab nicht mehr nur das Amduat gehörte, sondern auch die Litanei des Re, das Pfortenbuch, später das Totenbuch, das Höhlenbuch usw. Eine Ausnahme bildet Thutmosis III., dessen Grabdekoration schon sehr früh auch die Litanei des Re beinhaltet. Dieser König ist aber auch sehr weit herumgekommen, er war sozusagen ein Global Player, dessen Feldzüge und das damit verbundene Vordringen in andere Kulturkreise vielleicht auch sein Weltbild beeinflusst haben. Und auch eine frühe astronomische Decke ist bereits aus dem Grab des Senenmut bekannt (ich weiß nicht, ob es weitere in Privatgräbern gibt). Möglicherweise gab es also tatsächlich auch schon zu dieser frühen Zeit entsprechende naturwissenschaftliche Hinweise, die vorerst nur einem kleinen Kreis bekannt waren und wahrscheinlich auch nur von ganz wenigen verstanden wurden. Senenmut könnte - er muss ein kluger Kopf gewesen sein - ohne weiteres dazu gehört haben. Gitta
> Antwort auf Beitrag vom: 05.05.2004 um 10:21:09
|