Hallo Michael, danke für diese Ausführungen. Der Autor des im Moment von mir benutzten Buches – er heißt übrigens James E. Hoch – ist sich der Problematik durchaus bewusst … aber er macht es dennoch so. Und ich muss sagen: Nachdem ich es mit vielen Büchern versucht habe – vom Gardiner angefangen über diverse andere bis zum Allen –, gefällt mir der Hoch als Selbstlernbuch letztlich am besten. Wohlgemerkt: Es geht um ein Lehrbuch – nicht um eine Grammatik. Viele Autoren scheinen das gleichzusetzen; so *heißen* diese Bücher ja auch "Mittelägyptische Grundgrammatik" (Ockinga), "Mittelägyptische Grammatik" (Graefe) oder eben "Egyptian Grammar" (Gardiner). Aber eine Grammatik ist ein systematisch aufgebautes Nachschlagewerk; das mit einem Lehrbuch zu verquicken heißt, beim Lerner einen "Nürnberger Trichter" anzusetzen … Ich bin selbst Sprachlehrer (für Latein und Japanisch) und urteile von daher aus der Sicht dessen, der sich mit der zugehörigen Didaktik sowohl im Studium beschäftigt hat als auch tagtäglich in der Praxis auseinandersetzt. All die anderen von mir "getesteten" Lehrbücher des Ägyptischen sind (in Teilen mit Ausnahme des Gardiner) nach dem "Nürnberger Trichter"-Modell verfasst, das lernpsychologisch schlecht funktioniert. Sie laufen alle nach dem Schema: "Erstes Kapitel: Alles, was es zu Substantiven zu wissen gibt", "Zweites Kapitel: Alles, was es zu Adjektiven zu wissen gibt", "Drittes Kapitel: Alles, was es zu Pronomina zu wissen gibt" usw. Solche Lehrbücher, die für die Progression rein die Systematik zugrunde legen, gab es für andere Fremdsprachen früher auch einmal … *sehr*, *sehr* viel früher. Sie sind längst durch Werke ersetzt, die eine zyklische Progression aufweisen: "Erstes Kapitel: Ganz elementare Dinge zu Substantiven, Adjektiven, einfachen Sätzen", "Zweites Kapitel: Ein paar weitere Informationen zu einfachen Sätzen, außerdem das Wichtigste zu Pronomina", "Drittes Kapitel: Ein paar Besonderheiten zu Substantiven und Pronomina, außerdem erste weiterführende Informationen zu Verben" usw. Von allen Ägyptischbüchern, die ich getestet habe, ist allein der Hoch zumindest prinzipiell ein Lehrbuch mit zyklischer Progression. In den anderen ist man schon durch die Hälfte der Seiten durch, die das Buch überhaupt hat, bevor auch nur der erste verbale Satz auftaucht. Im Hoch gibt es solche schon in der ersten Lektion. Ich habe das Gefühl, dass Hoch selbst Sprachenlehrer ist oder sich zumindest überhaupt einmal mit den Erkenntnissen der Sprachdidaktik auseinandergesetzt und es für nutzbringend erachtet hat, sie einmal auch in ein Ägyptisch-Lehrbuch einzubeziehen. Es kommt ihm darauf an, erst einmal Grundlagen zu legen und diese dann – Lektion für Lektion – wieder aufzugreifen und sukzessive um weitere Details zu ergänzen. Man bleibt da "in einem Fluss" – im Gegensatz zu den Lektionen der übrigen Bücher, die wie monolithische Blöcke wirken. Hoch verwendet auch für die Wörter zunächst (= über viele Lektionen hin) immer wieder die gleiche hieroglyphische Schreibung (obwohl er natürlich auch angibt, dass es da oft diverse Varianten gibt). In den Erklärungen und den Übungen schreibt er die Wörter immer wieder gleich. Das ist etwas, was mir z. B. im Allen zusätzliche Probleme gemacht hat: Als Lerner muss man sich ja generell *so viel* merken und damit hantieren – und dann kommt auch noch dazu, dass man erst einmal darauf kommen muss, dass hier das Wort XY gemeint ist. Natürlich ist das nun einmal "in der Praxis" in der Tat der Fall, aber wäre es nicht effektiver, wenn man erst einmal ganz andere Hindernisse im Griff hat, bevor man sich auch *damit* noch herumschlagen muss? Und ähnlich sehe ich das mit den Originalstellen. Ja, Hoch hat etliche selbst konstruierte bzw. von Originalen abgewandelte Sätze als Übungsmaterial. Aber wieder vor allem, um für den Lerner die grammatischen Phänomene, die in der Lektion behandelt wurden, in den Mittelpunkt zu stellen und dabei das bisher Gelernte anwenden zu können, ohne zugleich zahlreiche unbekannte Vokabeln und Vorgriffe auf weitere Phänomene erforderlich zu machen, wie es der Fall ist, wenn man vorrangig oder gar ausschließlich mit Originalstellen üben soll. Die Inhalte der Sätze sind oft auch "banal" oder eben "typisch Übungssatz". Aber auch das sehe ich weniger als Problem als die zwanghafte Konzentration auf die ausschließliche Verwendung von Originalsätzen/-satzausschnitten, zumal diese oft – insbesondere, wenn sie aus dem Kontext gerissen sind – für die mitteleuropäischen Hirne des 21. Jahrhunderts auch dann abstrus oder zumindest schwer greifbar sind, wenn man sie "korrekt" übersetzt hat. (Ganz abgesehen davon, dass man in der Menge des Übungsmaterials durch die Zahl sinnvoll nutzbarer Belegstellen eingeschränkt ist und somit zu vielen Phänomenen nur wenige, immer wieder die gleichen Stellen als Übungsmaterial nutzen kann – üblicherweise sind das dann auch noch die gleichen, die man soeben in einer Grammatik gelesen hat, die man wegen dieses Übungssatzes konsultierte … was natürlich den "Übungswert" auf Null reduziert.) Huj … jetzt ist das hier eine sehr lange Lehrbuchkritik geworden, obwohl ich eigentlich im Kern nur sagen wollte: Die eierlegende Wollmilchsau gibt's leider nicht. Wenn man dem "Original-Ansatz" den Vorrang gibt, muss man – so scheint es mir jedenfalls auf dem Markt zu sein – Bücher nutzen, welche die Sprachendidaktik der letzten 100 Jahre nicht zu kennen scheinen (Natürlich kann es sein, dass mir etwas entgangen ist. Wenn du eine Empfehlung für ein anderes *Lehr*buch hast, das den Lerner und nicht das System im Fokus hat, würde ich mich freuen, davon zu erfahren.); wenn man ein didaktisch besser gestaltetes Lehrbuch will, bleibt einem wohl nur der Hoch – und der nutzt Originale ab Lektion 5 zunehmend in den Erklärungen und in den Übungen ab Lektion 7 – da gibt es dann ein erstes Gedicht, in Lektion 8 eine Grabinschrift usw. Man sieht also: Auch der Hoch kommt schon sehr wohl zu den Originalen, aber er nutzt – bis in die letzten Lektionen hinein – eben zumindest zusätzlich auch einfach "Drill-Sätze". Das Problem "Man weiß nie, ob ein Alter Ägypter einen solchen Satz je in dieser Form gesagt hätte" ist m. E. ein sehr kleines, wenn man auf Kosten der Unsicherheit in dieser Frage ein effektives und motivierendes Lehrwerk erstellen kann. Schau dir z. B. *alle* (!) Lateinlehrbücher an, die heute (und seit langer Zeit) genutzt werden. Da sind 90 % der Texte darin keine Originale und keiner weiß, ob Cicero den Satz wirklich *so* gesagt hätte … aber das hindert seit Generationen Millionen von Menschen nicht daran, mit diesen Lehrwerken Latein so zu erlernen, dass sie letztlich die originalen Cicero-Texte in der Tat lesen können. Im Gegenteil: Mit Lehrbüchern, die ausschließlich Originalbelege nutzten (und so etwas gab es für Latein früher natürlich auch, heute aber eben nicht mehr), würde man weit weniger effektiv und motivierend lernen können. Viele Grüße, Thomas.
> Antwort auf Beitrag vom: 06.08.2017 um 21:47:37
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