Voraussetzung dieser Kulthandlung ist eine Schiffsprozession über den Nil, den die Schiffahrtsszene 30 darstellt, einen Vorgang also, der sich außerhalb des Tempels abgespielt hat. Im Zentrum der Schiffsprozession fahren die Schiffe der Hathor, deren Kabinen leer sind. Der Grund für diese eigenartige Situation dürfte m.E. darin liegen, daß die Göttin nicht im Kultbild nach Deir el-Bahri fahren kann: Sie muß ja dort in ihrem stationären Kultbild Platz nehmen, kann also nur unsichtbar mitfahren. ... Anlaß und Zweck der Prozession der Hathor ist in Beischriften zur Schiffahrtsszene genannt: "Hathor, sie hat die Geburt wiederholt" und "Man (d.h. doch wohl "der König") veranlaßte, daß die Majestät der Großen Göttin sich begab, um zu ruhen (= sich niederzulassen) in ihrem Tempel von _sr-Dsr.w-Jmn.w (dem Totentempel der Hatschepsut)". Die Geburt, die hier genannt ist, ist natürlich die Geburt der Hatschepsut, die also jährlich rituell wiederholt wird. Die Prozession endet nach dem zweiten zitierten Text vor dem Kultbild, daß durch Opfer belebt wird, so daß Hathor in ihm Platz nehmen und die Handlungen des Säugens und Schützens vollziehen kann. Es sind die Handlungen, die die Gottesmutter nach der Geburt des Horusknaben in Chemmis durchführt. Die Prozession ist also der rituell wiederholte Zug nach Chemmis und verbindet die Vorgänge der Geburt und der Chemmis-Handlungen. Eine spätere Parallele bietet der Tempelkomplex von Abu Simbel, in dem die Zeugung des Königs (durch den Sonnenstrahl), seine Geburt (im kleinen Südtempel, der Geburtskammer), der anschließende Zug zum Kleinen Tempel (der nicht dargestellt ist) und zu dessen Kultbildkammer stattfindet. Hier vollzieht die Hathorkuh ebenfalls die Chemmis-Handlungen (die Hathor wird von der Gemalin Ramses II., Nefertari, "gespielt"). Im Hathottempel von Deir el-Bahri wird als Ziel des Kultes, wie oben schon dargelegt, die erhebung der Hatschepsut zur neuen Hathor angegeben. Dabei dürfte der Gedanke zum mindesten mitgespielt haben, daß Hatschepsut nicht der Horusknabe sein kann, sondern nur das "(weibliche) Horuskind". Der rituelle Rahmen, in dem die Prozession der Hathor stattfand, ist ebenfalls in der Schiffahrtsszene genannt: "Das Nahen dieses Gottes Amun bei seiner jährlichen Fahrt". Damit ist natürlich das Talfest gemeint und der Chemmis-Zug der Hathor dessen Zweigritual. |