Der sog. "Berlin-Sockel" ist ein Fragment aus dem Neuen Museum, Berlin, Inv.-Nr. ÄM 21687, auf dem drei Ausländer mit den gefesselten Händen im Rücken zu sehen sind. Der Name der Volksgruppe oder des Ortsnamens steht in Hieroglyphen in einem Ring, der durch ein Symbol umgeben ist, das an eine Festungsmauer erinnert. Diese Art der Darstellung ist geläufig für die Aufzählung der Völker der sog. "Neunbogen". Mit den Neunbogen sind die Feinde des Pharao gemeint, einschließlich der innenpolitischen. Die Zahl Neun wird wie bei der ägyptischen Götterneunheit als "Plural des Plurals" und damit als Gesamtheit interpretiert (der ägyptische Plural hat mindestens drei Elemente, da es für Zweiergruppen den Dual gibt). Der Bogen gilt als Symbol für die unterworfenen Feinde. Seit Djoser (3. Dyn.) findet man neun Bogen unter den Füßen bei pharaonischen Statuen, Sandalen oder anderen Gelegenheiten. Ein anderes berühmtes Beispiel stammt aus dem Grab des Tutanchamun. Seit der 18. Dyn. gibt es auch eine namentliche Liste dieser neun Bogen, in Privatgräbern. Beispiele aus den Gräbern des Chaemhat (TT 57) und des Cheruef (TT 192) habe ich beigefügt. Wir ersehen daraus, dass Ober- und Unterägypten zunächst mit zu den Neunbogen gezählt wurden. Erst ab der Ramessidenzeit sind es nur Fremdvölker; dann tauchen auch weitere Namen auf. Einzelheiten: Lexikon der Ägyptologie, Bd. I, Sp. 844-845, Stichwort "Bogenvölker" und Bd. IV, Sp. 472-473, Stichwort "Neunbogen". Auf dem Berliner Fragment sind nur drei (der vermutlich neun) Fremdvölker zu sehen. Die ersten beiden sind eindeutig identifizierbar: Jsqrn "Askalon" (TLA-Lemma-Nr. 859138) Knan "Kanaan" (TLA-Lemma-Nr. 854886) Mit "Kanaan" wurde teils ganz Palästina-Syrien, teils aber auch nur die südlichste der drei syrischen Provinzen Ägyptens bezeichnet, deren Hauptstadt Gaza, ägyptisch PA-Knan, war (Lexikon der Ägyptologie, Bd. II, Sp. 309-310, Stichwort "Kanaan"). Dieser Ortsname wird übrigens auch in der Stele des Merenptah erwähnt (siehe mein vorheriges Posting). Die dritte Bezeichnung ist abgebrochen, Teile der Hieroglyphen fehlen. Es war der Alttestamentler und Ägyptologe Manfred Görg, der 2001 den Vorschlag machte, die Inschrift wie folgt zu ergänzen (Israel in Hieroglyphen, in: Biblische Notizen, Heft 106, S. 21-27 (2001)): Er sah das Zeichen M8 SA als archaisierende Schreibung für S-r an und kam damit zur Lesung JSr'l "Israel". Ohne auf die Einzelheiten der phonetischen Analyse einzugehen, will ich hier nur ein Zitat angeben (Peter G. van der Veen, Wolfgang Zwickel, Die neue Israel-Inschrift und ihre historischen Implikationen, in: Stefan Jakob Wimmer, Georg Gafus (Hrsg.), "Vom Leben umfangen". Ägypten, das Alte Testament und das Gespräch der Religionen (Gedenkschrift Görg), Münster, 2014, S. 425-433; Zitat S. 427): Zitat:
Trotz der vorgebrachten Kritik kann mit guten Gründen an der von Görg vorgeschlagenen Lesung als "Israel" festgehalten werden. |
|
Das Problem, das sich nun ergibt, besteht darin, dass alle drei Schreibungen noch nicht der sog. syllabischen Schreibung bzw. Gruppenschrift (ein Subsystem der Hieroglyphenschrift zur Schreibung vorderasiatischer Wörter) entsprechen, wie sie erst ab der 19. Dyn. auftreten. Sie müssen der ersten Hälfte der 18. Dyn. zugewiesen werden, also etwa in die Zeit 1450-1400 v. Chr. und würden damit ungefähr 200 Jahre vor der Merenptah-Stele liegen. Görg erwog auch eine mögliche Übernahme "archaisierender" Schreibungen unter Ramses II., während eine Datierung in die Regierungszeit von Merenptah ausgeschlossen werden kann, trotz der ähnlichen Liste in dessen Stele. Van der Veen und Zwickel versuchen nun (in dem erwähnten Artikel), die archäologischen Befunde in Palästina mit der Lesung "Israel" in dem Berliner Fragment in Beziehung zu setzen und kommen schließlich zum Ergebnis: Zitat:
Das frühe Israel muss gleichfalls einen solchen nomadischen Ursprung gehabt haben. Der schon für die erzählte Zeit anachronistische Ausspruch "Ein jeder gehe in sein Zelt" (2 Sam 20,1 mit zahlreichen ähnlichen Parallelen) macht deutlich, dass es eine Zeit gegeben haben muss, in der die Neusiedler in Zelten lebten und nicht in den archäologisch erfassten Siedlungen. Aus archäologischen Gründen spricht somit nichts dagegen, die Anfänge Israels, wie sie in der Berliner Inschrift literarisch festgehalten sind, analog zu den Verhältnissen in Moab schon in der Zeit des frühen 14. Jh.s v.Chr. anzunehmen. (...) Allerdings ist dieses frühe Israel, wie es in der Berliner Inschrift bezeugt wird, sicherlich noch ein sehr labiles Gefüge, das sich – wieder analog zu den Verhältnissen in Moab – archäologisch kaum näher fassen lassen wird. |
|
Mit anderen Worten: Sie halten die Datierung in die frühe 18. Dyn. für wahrscheinlich. Wie dem auch sei, auch den "Berliner Sockel" kann man nicht als Beleg für den Exodus heranziehen, sondern nur für die Wahrnehmung einer Volksgruppe in Palästina und ihre Einstufung als zu unterdrückende bzw. besiegte Feinde Ägyptens. Der Scan des Berliner Fragments ÄM 21687 und die Rekonstruktionszeichnung des dritten Ortsrings stammen aus dem erwähnten Artikel von van der Veen und Zwickel, S. 431. Viele Grüße, Michael Tilgner
> Antwort auf Beitrag vom: 22.12.2020 um 23:32:07
|